Elektrizität am Ende der Welt

 

Im April 1997 besuchen mein Mann und ich Phugmoche. Wir steigen den Hang am steilen Tal­schluß hin­auf. Mehrere kleine Höhlen, wie herausgekerbt aus dem kristallinen Fels, waren noch bis vor wenigen Jahr­zehnten von Ein­siedlern bewohnt: es sind Chamkhang, Meditations­klausen. Unter uns sehen wir die Dächer von Phugmoche. Auch dieses kleine Kloster ist vor zwei, drei Generationen aus einem Chamkhang entstanden. Es thront auf einem riesigen Felsen, der vor Urzeiten herab­ge­stürzt ist. Phugmoche bedeutet 'Große Mutter der Höhle'. Über uns, im Nebel, wächst zwischen 3.500 und 4.000 Metern Höhe dichter, un­berührter Urwald aus Tannen und Rhododendren. Wir steigen über umgestürzte Baum­stämme, die langsam wieder in Erde übergehen und jungen Bäumen Nahrung geben. Flechten hängen von den Ästen herab. Nur die Yaks, die hier grasen, haben Pfade in den Waldboden getreten. Gyalzen, unser Freund und Führer, geht voraus. Fast stolpern wir über seinen Rucksack, der an einen Baum gelehnt mitten auf dem Weg steht. Gyalzen selbst ist ver­schwunden. Wir halten inne und warten. Es beginnt zu schneien, bald biegen sich die Zweige unter einer feuchten, weißen Last. Wir rufen, wir suchen ihn und bemerken, daß wir auf einem Bergsporn stehen, der an drei Seiten mit steilen Klippen aus einer bewaldeten Schlucht aufragt. Eilig, in der Furcht, Gyalzen könne etwas zugestoßen sein, kehren wir nach Phugmoche zurück, um Hilfe zu holen.

 

Kurz bevor wir das Kloster erreichen, wo wir fünf Jahre zuvor zusammen mit dem Mönch Ngawang Jinpa Lama eine Internatsschule gegründet haben, gehen wir an vielen zwei bis drei Meter hohen Holz­stapeln vorüber – Holz, das eingeschlagen wurde, um während der Monsunzeit zum Kochen ver­wendet zu werden. Wie lange würde es unter diesen Umständen den ursprünglichen Wald noch geben? In jedem Haus brennt ein Holzfeuer. Nur eine halbe Wegstunde entfernt liegt das Kloster Thupten Choeling mit mehr als 800 Nonnen und Mönchen. Auch dort wird mit Holz gekocht.

 

 

Zusammen mit Ngawang Jinpa Lama suchen wir nach einer alternativen Energie. Unten, am Fuße des Felsens von Phugmoche, fließt der Basa Khola, ein Bach, der von den Gletschern der Heiligen Berge Numbur und Karyolang gespeist wird. Das Wasser rauscht selbst in der Trockenzeit in steilem Bett kraftvoll herab ins Tal: Phugmoche liegt auf über 3.000 Metern Höhe, nur 50 km ent­fernt vom höchsten Berg der Erde, dem Mount Everest. Wir beschließen, ein kleines Wasser­kraft­werk zu bauen, um fortan mit Elektrizität zu kochen.

 

Doch bis dahin führte ein langer Weg. Zunächst holte ich bei verschiedenen Firmen im Kathmandutal Kostenvoranschläge ein und dis­ku­tierte sie mit Fachleuten in Deutschland. Das Resultat war ent­mutigend. Ich erfuhr, daß für ein kleines Kraftwerk unter 100 kW, für eine 'Micro Hydro­power­station', wie wir sie planten, die dänische Entwicklungs­hilfe DANIDA zuständig sei. Ich nahm Kontakt zur DANIDA, Danish International Development Agency, auf. Ich er­fuhr, daß sie in unserem Ge­biet, in Solu-Khumbu, noch nie gearbeitet habe und nichts für uns tun könne. Die deutsche gtz (Gesell­schaft für Technische Zusammenarbeit) je­doch zeigte Interesse an dem Projekt. Ein spezielles Büro existiere in Kathmandu zwar noch nicht, auch werde man sich in dem ge­planten Büro nur mit 'Small Hydropower' über 100 kW befassen. Den­noch schöpfte ich Hoffnung.

 

Tatsächlich setzten sich die Mitarbeiter der gtz zusammen mit den Ingenieuren ihres Schweizer Consulting-Unternehmens für uns ein. Im April 2001 begleiteten mich drei einheimische Ingenieure nach Phugmoche, um ein Gutachten zu erstellen. Sie sahen den Bach, sie prüften den kristallinen Fels, sie waren begeistert. Die gtz stellte die Verbindung zum AEPC (Alternative Energy Promotion Centre) her, zu einer nepalischen Behörde, die unter bestimmten Voraussetzungen in Zusammen­arbeit mit der DANIDA Subventionen für die Bereitstellung erneuerbarer Energie erteilt. Ein aus­giebiger Papierkrieg begann: Landeigentums- und Wasserrechte mußten dokumentiert werden. Doch letztlich gelang es uns, die administrativen Hürden zu überwinden: im Herbst 2001 wurden uns Sub­ventionen zuerkannt. Sie deckten etwa die Hälfte der Kosten ab. Die andere Hälfte hatte Herr Dietrich von Dobeneck, der von Anfang an von dem Projekt überzeugt war, unter seinen Freunden ge­sammelt und selbst gespendet. Gleich zu Beginn des Jahres 2002 sollte mit dem Bau begonnen werden.

 

Am 26. November 2001 wollte ich nach Phaplu fliegen, um Phugmoche zu besuchen. Beim Früh­stück erfuhr ich, daß in der Nacht zuvor die Maoisten das Verwaltungszentrum in Salleri, unmittelbar süd­lich von Phaplu und nur sechs Wegstunden von Phugmoche entfernt, angegriffen hatten. Auf beiden Seiten, bei Armee und Maoisten, hatte es viele Tote gegeben. Noch am 26. November wurde der Ausnahme­zustand verhängt. An ein Bauvorhaben war nicht mehr zu denken.

 

Ermutigt von der gtz faßten mein Mitarbeiter Pemba Gyalbu Sherpa und ich im Frühjahr 2003 den Ent­schluß, den Bau der Wasserkraftanlage wieder ins Auge zu fassen. Erneut mußten wir um die finan­zielle Unterstützung kämpfen, die uns im Herbst 2001 schon einmal zugesprochen worden war. Man teilte uns mit, die Subventionen seien verfallen, da sie nicht in Anspruch genommen worden seien. Am 15. August wurden sie uns wieder zugestanden, und wir konnten die Turbine, wie geplant, in Indonesien bestellen. Die gtz in Kathmandu und ihre deutsche Zentrale in Eschborn halfen uns dabei.

 

Wir beauftragten die nepalische Firma STRUCTO NEPAL mit dem Bau der Anlage. Ich will nicht alle weiteren Be­hinde­rungen und Hemm­nisse schildern - die Maoisten ver­langten hohe 'Landegebühren' für die Hub­schrauber­transporte: alle 200 Rohre, je­weils 2,5 m lang und 80 kg schwer, wurden daher auf dem Rücken von Trägern über die Berge trans­portiert. Die Turbine wurde zerlegt und in Einzel­teilen vom Flug­platz in Phaplu nach Phugmoche ge­tragen. Bei meinem Besuch im Herbst 2004 befand ich zu­sammen mit dem Lama, daß der 4. April des kommenden Jahres ein Glück verheißender Tag sei, und hoffnungs­voll legten wir die Ein­weihung unserer Anlage auf den 4. April 2005 fest.

 

Wieder einmal richteten sich die politischen Ereignisse nicht nach dem Kalender des Lamas. Doch wir hielten an dem Datum fest. Am Abend des 3. April war das Dach noch nicht auf das Turbinen­haus montiert. Ich war guten Mutes, aus Erfahrung wußte ich, daß in Nepal oft in letzter Minute Wunder geschehen. Und so war es auch dieses Mal: der 4. April 2005 war ein Tag der Freude in Phugmoche und in den benachbarten Dörfern. Der Lama hatte mit den jungen Männern, die sich für eine reli­giöse Ausbildung entschieden haben, eine Zeremonie vorbereitet. Auf einem geschmückten Altar standen Opfergaben für die Schutzgötter der Sherpa-Vorfahren, die zu jedem wichtigen Er­eignis eingeladen werden. Trompeten erklangen, die Trommel wurde geschlagen, heilige Texte wurden rezitiert. Nach fast acht Jahren der Planung und zäher, geduldiger Arbeit konnten wir das 'Basa Khola Micro Hydropower Project' in Phugmoche einweihen. Erst als das Wasser die Turbine in Gang setzte, als drei elektrische Birnen hell aufleuchteten und unter den Gästen Jubel ausbrach, konnte ich das Unglaubliche fassen: unser Kraftwerk produzierte Strom, und es war mehr als die ge­planten 35 kW. Pramod, der Ingenieur der gtz, prophezeite uns bis zu 40 kW. Wir werden mit Elek­trizität kochen, wir werden die Klassenzimmer und die Schlafräume heizen und Wasser für die Duschen wärmen. Die 20 Haushalte der Nachbarsiedlungen Pangkarma und Tajingma erhalten Strom für die Beleuchtung.

 

 

Die offiziell geladenen Gäste hatten wegen der un­günstigen Umstände ihre Teilnahme an der Feier abgesagt. Doch überzeugten und er­mutigten die direkt Beteiligten, die Tech­ni­ker und Ingenieure von Seiten des Her­stellers STRUCTO NEPAL und der gtz, durch ihren effek­ti­ven Einsatz: vier tüchtige und enga­gier­te junge Männer unter­schiedlicher ethni­scher Her­kunft. Um der Sache willen haben sie unter schwieri­gen Bedingungen harte und gute Arbeit geleistet, die es wert ist, ge­würdigt zu werden. Ich bewundere ihren Ein­satz und danke ihnen dafür. Sie geben Hoffnung auf eine positive Wendung der Lage Nepals in der Zukunft und auf die erfolgreiche Zusammenarbeit der ver­schiedenen Volks­gruppen, sobald der er­sehnte Friede ein­kehrt.

 

Zum Abschluß sangen und tanzten unsere Kin­der. Sie erheiterten uns mit kleinen Auf­führun­gen. Auch die zwei Männer des Nepal-TV-Teams, das uns begleitet hat, waren be­geistert. Noch ehe wir in Kathmandu wieder ein­trafen, waren schon kurze Spots aus dem Um­feld der Ein­weihung im Fern­sehen zu sehen.

 

Doch die Arbeit geht weiter. An die Subven­tionen, die wir für das Kraftwerk erhalten haben, ist die Auflage geknüpft, 'cottage industries', kleine Handwerks­betriebe zu grün­den, deren Maschinen mit unserer Elektrizität arbeiten. Wir planen eine Käserei, die die Milch­erträge der zahl­reichen Yakhirten ver­arbeitet. Eine Manu­faktur wird aus der Rinde eines heimischen Seidelbasts (Daphne sp., nepalisch: Lokta) Papier her­stellen. Wir wollen die Lokta­büsche in Beeten ziehen und dann in ihren natürlichen Stand­ort, den Wald, verpflanzen. Eine Tisch­lerei soll tibetische Kleinmöbel für den Export fertigen. AEPC und gtz bil­den die Klein­unter­nehmer an den neuen Maschinen aus. Das Projekt Phugmoche hilft ihnen bei der Ver­marktung.

 

Und jetzt fragen Sie sich sicher, was damals im April 1997 unserem Freund Gyalzen geschehen ist: er traf zehn Minuten nach uns in Phugmoche ein. Wir waren gerade dabei, eine Suchmannschaft zusammen­zustellen. Die Erleichterung war groß, Gyalzen war nur vom Wege abgekommen und hatte sich im Schneetreiben verirrt.

 

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